„Dark Matter – Der Zeitenläufer“: Joel Edgerton kämpft gegen sich selbst – Review

Bestselleradaption schickt Physikprofessor auf nervenaufreibenden Trip durch parallele Welten

Rezension von Christopher Diekhaus – 07.05.2024, 17:30 Uhr

Physikprofessor Jason Dessen (Joel Edgerton) wird urplötzlich aus seinem Leben mit Ehefrau Daniela (Jennifer Connelly) gerissen. – Bild: Apple TV+
Physikprofessor Jason Dessen (Joel Edgerton) wird urplötzlich aus seinem Leben mit Ehefrau Daniela (Jennifer Connelly) gerissen.

Jeden Tag wägen wir Optionen ab und treffen Entscheidungen. Oft sind es kleine Dinge, die es festzulegen gilt. Von Zeit zu Zeit stehen wir aber auch vor Wahlmöglichkeiten von großer Tragweite. Fragen, die unsere Zukunft, unseren Lebensweg maßgeblich beeinflussen, ihn nicht selten in eine gänzlich andere Richtung lenken. Hinterher – das kennt wohl jeder – zweifelt man manchmal an einem solchen Entschluss und würde zu gerne wissen, was geschehen wäre, wenn man sich seinerzeit anders entschieden hätte. Wäre ich dann vielleicht ein grundverschiedener Mensch? Aus diesem griffigen Gedankenspiel baute US-Schriftsteller Blake Crouch den 2016 veröffentlichten Bestseller „Dark Matter – Der Zeitenläufer“, den er nun für den Streaming-Dienst Apple TV+ in eine neunteilige Serie verwandeln durfte. Der Scifi-Thriller nutzt das durch die letzten Filme des Marvel Cinematic Universe im Mainstream vollends etablierte Konzept des Multiversums für einen nicht immer ganz runden, aber durchaus spannenden Trip, der das komplexe Wesen des Menschen und seinen Hang, Entscheidungen zu hinterfragen und zu bedauern, zu ergründen versucht.

Dass ihm ein Ritt durch parallele Welten bevorsteht, ahnt Physikprofessor Jason Dessen (Joel Edgerton) nicht. Viel zu normal, zu unspektakulär ist sein Leben, das er mit Ehefrau Daniela (Jennifer Connelly) und Teenagersohn Charlie (Oakes Fegley) in Chicago führt. Der etwas abgekämpft aussehende Mann hat sich in seinen Routinen, seinem Familiendasein eingerichtet, steht vor Studenten, die ihm nur wenig Aufmerksamkeit schenken. Vor allem für uns Zuschauer umreißt er eingangs das Gedankenexperiment um Schrödingers gleichermaßen tote wie lebendige Katze, das quantenmechanische Zwischenzustände beschreibt, die auf unsere alltäglichen Systeme nicht anwendbar sind. Mit diesen Überlegungen, denen später weitere kleine Physikexkurse folgen werden, bereitet uns Serienschöpfer Crouch auf baldige Entwicklungen vor.

Welchem Jason (Joel Edgerton) steht Daniela (Jennifer Connelly) hier gegenüber? Apple TV+

Festhalten müssen wir: Dessen hat keine echte Midlife-Crisis, scheint sich nicht nach einem kompletten Kurswechsel zu sehnen, ist einfach nur etwas müde, etwas bequem geworden, wie es wohl vielen Menschen einmal in ihrem Leben ergeht. Frau und Kind sind ihm nach wie vor wichtig. Warum sonst reagiert er so verhalten auf ein verlockendes Jobangebot seines Kumpels Ryan Holder (Jimmi Simpson), der nach dem Gewinn eines prestigeträchtigen Preises in San Francisco ein neurowissenschaftliches Unternehmen gründen will. Gleich im Anschluss an die Offerte verlässt Jason die in einer Bar stattfindende Feier seines Freundes und macht sich auf den Heimweg.

Im Dämmerlicht einer vermüllten Hochbahntrasse greift ihn plötzlich ein Vermummter an und verschleppt ihn in eine stillgelegte Lagerhalle. Was der überrumpelten Professor erst mal nicht erkennt, sich aber anhand der ähnlich klingenden Stimme schon erahnen lässt: Der Mann ist ein Alter Ego (ebenfalls gespielt von Joel Edgerton). Im Handumdrehen wird Dessen sediert und findet sich kurz darauf in einem gigantischen Forschungskomplex in einer anderen Realität wieder. Leighton Vance (Dayo Okeniyi), Besitzer des Labors, und Amanda Lucas (Alice Braga), Jasons Lebensgefährtin in diesem Universum, bestürmen den Protagonisten mit Fragen und versichern ihm, der Erste zu sein, der von der Reise zurückgekehrt sei. So weit, so mysteriös, denkt sich auch der Hochschullehrer und ergreift die Flucht.

Entscheidungen erschaffen neue Welten, in denen wir parallel existieren, heißt es sinngemäß an einer Stelle. Und genau diese Idee überträgt sich auf den Plot der Serie. Der Physikprofessor Jason schlug an einem ganz bestimmten Punkt in seinem Leben den Familienweg ein und verzichtete damit auf eine wissenschaftliche Turbokarriere. Sein Pendant aus der anderen Realität dagegen opferte die Beziehung mit Daniela für eine preisgekrönte Forscherlaufbahn und konstruierte dabei, so viel sei verraten, für Leightons Firma ein Objekt, das den Besuch unbekannter Dimensionen möglich macht.

Physikprofessor Jason (Joel Edgerton) muss knifflige Aufgaben bewältigen, um seine Familie wiederzusehen. Apple TV+

Dass sich der zweite Dessen in das Leben des ersten drängt und ihn noch dazu in die fremde Parallelwelt verbannt, ist ein reizvoller Aufhänger, den „Dark Matter – Der Zeitenläufer“ recht zügig etabliert und aus dem sich einiges an Spannungspotenzial ergibt. Was genau hat der unheimliche Besucher im Sinn? Warum glaubt er, dass sein Handeln für beide Dessens besser sei? Wird er tatsächlich, wie angedeutet, von Schuldgefühlen angetrieben? Sehnt er sich nur nach einer Familie? Welche Rolle spielen in seinen Plänen Charlie und Daniela, die zwar Änderungen im Verhalten und Auftreten bemerken, den neuen Jason aber nicht als solchen erkennen.

Wie leicht es in Zeiten eines mit Fotos, Termineinträgen und Geburtstagen vollgepackten Smartphones ist, in die Privatsphäre eines Menschen zu blicken und Informationen über seine Existenz zu erhalten, zeigt die Serie trotz kleiner Logikbrüche auf prägnante Weise. Es gibt sie, die kleinen Irritationen, weil der „falsche“ Jason gewisse Kenntnisse nicht besitzt. Vieles greift er sich aber einfach aus dem Handy seines unbescholtenen Gegenstücks ab. Keine Frage! Die hier beschriebene home invasion hat allemal gespenstische Züge.

Der „richtige“ Jason muss derweil auf seiner Flucht Ordnung in das plötzliche Chaos bringen und gelangt, mitunter etwas zu geschmeidig, an wichtige Hinweise, die Rückschlüsse auf seine Lage, die unbekannte Dimension und die offenbar finsteren Absichten seines Alter Egos zulassen. Hier und da sind die Drehbuchschlenker etwas ungelenk. Der permanente Wechsel zwischen den beiden Welten, akustisch oft mit einer Art Schnippen unterlegt, hält das Interesse jedoch auf konstantem Niveau.

Optisch heben sich die Universen übrigens erkennbar voneinander ab. Die Realität, der unser Protagonist entstammt und aus der er unvermittelt herausgerissen wird, ist häufig in warme Farben getaucht, während die Wirklichkeit, in der er orientierungslos erwacht, kühler daherkommt. Eine Weile ist zudem der Rahmen eher klein. Panoramabilder oder Überblickseinstellungen halten sich in Grenzen. Oft schauen wir in Großaufnahmen auf das entgeisterte Gesicht des aus seinem Leben katapultierten Dozenten, der schnell nur noch ein Ziel vor Augen hat: Zurück zu Frau und Sohn! Womit wir die emotionale Antriebsfeder der Serie identifiziert hätten.

Was plant Jason (Joel Edgerton), der obsessive Forscher? Apple TV+

Zum Ende der zweiten Folge gewinnt „Dark Matter – Der Zeitenläufer“ an Dringlichkeit, und mit Beginn der dritten Episode weitet Blake Crouch den Blick auf seine Story-Welt(en). Eine verhältnismäßig intime Mystery-Erzählung mutiert zu einer komplexer werdenden Hatz durch das Multiversum, durch verschiedene Katastrophen- und Untergangsszenarien. Ein von Schnee bedecktes oder ein in braune Aschewolken gehülltes Chicago sind technisch sauber umgesetzt, liefern spektakuläre Impressionen.

Jasons Erforschung verschiedener Universen hat mitunter aber auch etwas von einem Computerspiel, in dem man von einem Level ins nächste springt. In manchen dieser Dimensionen tun sich für Dessen erschütternde und schmerzhafte Erkenntnisse auf. Beispielsweise dann, als er begreift, dass eine Version seiner selbst Daniela und Charlie in einer anderen Realität Leid zugefügt haben und dafür in den Knast gewandert sein muss. Zerstörerische Kräfte schlummern in jedem von uns, ihr Hervorbrechen ist bloß an bestimmte Umstände gebunden, will uns die Serie hier wohl sagen. Gerne würde man in einigen Welten länger bleiben. Auch, weil sich bei manchen Nebenfiguren aufwühlende Hintergründe andeuten. Die Serie zieht es jedoch meistens schnell wieder weiter. Denn die nächste Tür will schon geöffnet werden.

Das Konzept des Multiversums ist ein Quell der Möglichkeiten, birgt gleichzeitig aber die Gefahr, sich zu verheddern, den Kern einer Geschichte aus den Augen zu verlieren und in Beliebigkeit abzudriften. „Dark Matter – Der Zeitenläufer“ kann sich davon nicht ganz freimachen. Die Überlegungen zur Identität und zum Bedauern über verpasste Chancen werden manchmal allzu hastig in den Raum geworfen. Erfreulicherweise entfernt sich die Apple-Produktion in den ersten fünf Folgen jedoch nie zu weit von den Nöten und Ängsten ihres Protagonisten. Ganz wichtig dabei: Joel Edgerton erdet konsequent den immer wilder hin- und herspringenden High-Concept-Plot. Die Rolle des Durchschnittstypen Jason steht ihm ebenso gut zu Gesicht wie der Part des undurchschaubaren Familieneindringlings. Besonders das Zusammenspiel mit der in verschiedenen Daniela-Versionen auftretenden Jennifer Connelly überzeugt, lässt eine glaubhafte Nähe entstehen. Nicht die schlechtesten Voraussetzungen für einen fesselnd-dramatischen Fort- und Ausgang.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten fünf von insgesamt neun Folgen von „Dark Matter – Der Zeitenläufer“.

Meine Wertung: 3,5/​5

Die ersten beiden Episoden der Serie „Dark Matter – Der Zeitenläufer“ sind ab dem 8. Mai bei Apple TV+ verfügbar. Anschließend erfolgt die Veröffentlichung im wöchentlichen Rhythmus.

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • (geb. 1992) am

    Der Plot erinnert mich etwas an "Sliders", wo die Protagonisten auch dauernd in andere Parallelwelten gesprungen sind.


    Ich hoffe, es ist nicht zu kompliziert dem ganzen zu folgen.
    • am

      Glaube ich nicht. Zumindest ist das Buch linear erzählt gewesen, geradezu "lieblos" linear. Ich will aber nicht spoilern, darum nuff said! 😉


      Ich werd's mir aber wohl nicht reinziehen, weil mir das Buch nicht gefallen hat und ich mir einfach nicht vorstellen kann, dass die Serie dessen Schwächen ausbügeln kann. Zumindest werde ich abwarten bis alle Folgen veröffentlichst sind und ich einige Reviews finde, die die Serie loben.

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