„Rentierbaby“: Heftig, ehrlich, faszinierend – Review

Netflix-Miniserie über einen traumatisierten Komiker und seine Stalkerin ist zu Recht ein Hit

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 02.05.2024, 17:30 Uhr

Fällt sein Leben erst jetzt auseinander – oder war es noch nie in Ordnung? Komiker Donny Dunn (Richard Gadd) geht es sichtlich nicht gut. – Bild: Netflix
Fällt sein Leben erst jetzt auseinander – oder war es noch nie in Ordnung? Komiker Donny Dunn (Richard Gadd) geht es sichtlich nicht gut.

Sie ist der unerwartetste Streaming-Erfolg des Frühjahrs: „Rentierbaby“, die siebenteilige britische Miniserie über einen erfolglosen Stand-up-Comedian, der von einer älteren Frau gestalkt wird und darüber in eine gravierende Lebenskrise gerät. Das autobiografische, geradezu peinigend ehrliche Projekt, mit dem Hauptdarsteller und Autor Richard Gadd sein eigenes Bühnenstück verfilmen ließ, zeigt, dass vielschichtige Stoffe mit differenzierten Charakteren eben doch ihr Publikum finden können – auch wenn man davon ausgehen muss, dass hier zum Teil auch ein gewisser Sensationalismus den Erfolg befeuerte: Seit „Rentierbaby“ auf Netflix läuft, versuchen Hobby-Detektive, die Vorbilder der fiktionalisierten Figuren zu enttarnen.

Richard Gadd war selbst in Großbritannien bislang nur wenigen ein Begriff. Man hätte ihn von ein paar Fernsehfilmen oder Seriennebenrollen kennen können (zuletzt etwa in „Wedding Season“), aber auch nur, wenn man genau hingeschaut hat. Jetzt ist Gadd auf einen Schlag weltweit bekannt geworden. „Schuld“ daran hat „Rentierbaby“, eine neue Netflix-Serie, die seit ihrer Veröffentlichung im April zu einer kleinen Sensation geworden ist. Die sieben Episoden sorgen für jede Menge Buzz und beweisen gleich dreierlei: Erstens verfügt ein Streamer wie Netflix nach wie vor über die Macht, Produktionen bislang unbekannter Macher zu großer Popularität zu verhelfen; zweitens können auch komplexe, ambivalente, fordernde Stoffe ihr Publikum finden; drittens entfalten Filme und Serien, die auf wahren Geschichten basieren und im weitesten Sinne in den Ordner „True Crime“ einzusortieren sind, eine besondere Sogkraft: Aus Serienguckern werden Hobbydetektive.

Die wahre Geschichte, um die es in „Rentierbaby“ geht, hat Richard Gadd zwischen 2015 und 2017 erlebt, als er selbst Mitte bis Ende zwanzig war. Zu jener Zeit war der Schotte ein erfolgloser Comedian, der vor desinteressiertem Kneipenpublikum eine sehr besondere (und nicht besonders gute) Form von Requisiten-Stand-Up aufführte und sein Geld als Barkeeper in einem Londoner Café verdienen musste. Um sein Selbstbewusstsein war es nicht gut bestellt, nach der Trennung von seiner Freundin lebte er immer noch im Haus von deren Mutter.

Die Star-Anwältin und ihr Rentierbaby: Martha (Jessica Gunning) quatscht und gackert sich in Donnys Leben fest – und will einfach nie wieder gehen. Netflix

Dann betrat die Frau das Café, die in der Serie Martha Scott genannt wird: Sie stellt sich als bedeutende Anwältin vor, mit weltberühmten Klienten. Doch Kleingeld für ein Getränk hat sie nicht. Richard Gadd, der sein fiktionalisiertes Selbst in der Serie „Donny Dunn“ nennt, hat Mitleid mit der verwirrt scheinenden 42-Jährigen, er gibt ihr das Getränk „aufs Haus“ und hört sich ihre Geschichten an. Es ist der Auftakt für ein jahrelanges Martyrium, das sich vom Kuriosum zur Last und dann sehr schnell zu einem Höllenfeuer emporschraubt, das nicht nur ihn selbst, sondern auch seine Partnerin, seine Freunde, später seine ganze Familie betrifft. Und Richard/​Donny, das ist das Beeindruckende an dieser Serie, lässt weder aus, wie sehr er selbst zur Eskalation der Lage beiträgt, noch, was ihm vorher schon zugestoßen war und die psychische Grundlage dafür schuf, dass er so handelte, wie er handelte.

Einfache Täter-Opfer-Zurechtsortierungen gibt es in „Rentierbaby“ nicht, facettenreich wird dagegen aufgefächert, was Missbrauchserfahrungen mit Menschen machen können und dass Männer genauso sehr zu Opfern werden können. Es geht um seelische Erkrankungen, Abhängigkeitsverhältnisse, um sexuelle Selbstfindung und Selbstverleugnung bis hin zum Selbsthass aus einer alles bestimmenden Scham heraus, es geht um Anerkennungssehnsucht selbst bei den eigenen Peinigern und auch um unbequeme Fragen der künstlerischen Inspiration, die sich inzwischen längst auf die Meta-Ebene verlagert haben. Am erstaunlichsten aber ist die Art und Weise, wie Richard Gadd sich der Sache nähert: Den einstündigen Solo-Bühnenabend, mit dem er jahrelang aufgetreten ist, hat er (superb inszeniert von Weronika Tofilska und Josephine Bornebusch) auf sieben unterschiedlich lange Serienepisoden erweitert, die sehr eigen und dabei immer souverän zwischen absurder Comedy (mit trockenen Pointen und schrägen Perspektiven), fast horrorfilmartiger Thrillerspannung, bewegendem Charakterstück und abgründigem Psychodrama hin- und herpendeln.

Es ist eine Mischung, die man so noch nie gesehen hat, in Teilen vielleicht vergleichbar mit der ebenfalls britischen, ebenfalls um Missbrauchsvariationen kreisenden Miniserie „I May Destroy You“, aber dennoch von völlig eigener Tonalität. Gerade weil einige Teile der Serie auch dem Publikum ziemlich viel abverlangen (vor der vierten Episode gibt es sehr zu Recht eine entsprechende Triggerwarnung), ist der Anklang, den sie findet, umso erstaunlicher.

Netter Typ, oder? Keineswegs. Machtmensch Darrien (Tom Goodman-Hill) lockt Donny in seine dunkle Wohnungshöhle und missbraucht ihn dort. Netflix

Martha also drängt sich immer stärker in Donnys Leben. Sie taucht jeden einzelnen Tag im Café auf, meldet sich per E-Mail bei ihm, bei Facebook, mischt sich schließlich in seine Live-Auftritte ein, lauert ihm auf dem Nachhauseweg auf, träumt sich in eine sexuelle und romantische Beziehung mit ihm hinein. „Baby Reindeer“ nennt sie ihren selbsternannten Liebhaber, Rentierbaby, und erst in einer erschütternden Szene gegen Ende erfährt Donny auch, warum sie das tut. (Viel zu) lange lässt sich Donny das Tun der aufdringlichen Person gefallen, nimmt es als Kuriosum, doch sein gnadenlos ehrlicher Zugriff auf den Stoff spart in der Serie nicht aus, was er selbst dafür tut, den Kontakt nicht sofort unterbinden zu lassen und die Frau anzuzeigen. Die bedingungslose Zuwendung einer völlig Fremden kann, selbst wenn diese Fremde offensichtlich psychische Probleme hat, jenen den Bauch pinseln, deren Selbstwertgefühl am Boden liegt. Als Donny herausfindet, dass sich hinter Martha keine Top-Anwältin, sondern eine in einer Sozialwohnung vegetierende Serienstalkerin verbirgt, die schon mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist, ist dies für ihn kein Grund, den Schlussstrich zu ziehen. Im Gegenteil, es ist erst der Anfang einer Abwärtsspirale für alle Beteiligten, in der auch Donny immer wieder Entscheidungen trifft, die die Angelegenheit weiter aus dem Ruder laufen lassen.

Hintergründe für den Zustand, in dem sich Donny befindet, als er Martha kennenlernt und gewähren lässt, liefert Gadd in der beklemmenden vierten Episode nach, in der der noch ganz junge Comedian beim Fringe Festival in Edinburgh den erfolgreichen Theater- und Fernsehmacher Darrien kennenlernt, der Donny fortan in ein perverses Abhängigkeitsverhältnis zwingt, ihn „groomt“, unter Drogen setzt und sexuell missbraucht, nicht nur einmal, sondern immer wieder. Die Scham, die Donny darüber empfindet, dass er sich dem machtbewussten Peiniger nicht sofort entzieht, sondern dessen Nähe immer wieder herstellt, wird sich später spiegeln in seiner Unfähigkeit, dem zerstörerischen Bannkreis Marthas zu entkommen. Hinzu kommt, das ausgerechnet die Missbrauchserfahrung dazu führt, dass Donny seiner sexuellen Identität auf die Spur kommt, die schon deshalb von Anfang an mit Scham konnotiert ist und ein erfülltes Beziehungsleben unmöglich zu machen scheint. Nach einer Phase wahlloser Sexabenteuer quer durch alle Geschlechter verliebt er sich in die Transfrau Teri, eine selbstbewusste Therapeutin, doch sowohl sein nie versiegendes Unbehagen an allem, was mit Nähe zu tun hat, als auch Marthas Interventionen machen die Zweisamkeit zunichte.

Ohne die fantastischen Schauspielleistungen aller Beteiligten würde der Nachvollzug dieser zwischenmenschlichen Gemengelage nur halb so gut gelingen: Für Richard Gadd wird „Rentierbaby“ der Durchbruch sein, allein sein herzzerreißender Monolog in der sechsten Episode, die Donny beim Zusammenbruch auf offener Bühne zeigt, dürfte ihm Preise einhandeln. Ebenso großartig ist Jessica Gunning („The Outlaws“), die als Martha eine erstaunliche Bandbreite zeigen kann: In Zehntelsekundenabständen wechselt sie zwischen kokett und wütend, zwischen mitleiderregend verletzlich und unflätig aggressiv hin und her, man hasst sie erst und wünscht sich dann, sie möge endlich die Hilfe finden, die sie braucht. Tom Goodman-Hill („The War Below“) überzeugt nicht minder in seinen Auftritten als predator Darrien, ein charmanter, professionell und souverän als Gönner auftretender Mittfünfziger, der sich seiner Macht furchteinflößend bewusst ist. Und auch für Nava Mau („genera+ion“) dürfte sich die Serie als verdienter Karrierebeschleuniger erweisen: Ihre Teri ist so etwas wie das Herz der sieben Episoden, und als sie verschwindet, wird die Leerstelle nicht nur für Donny, sondern auch fürs Publikum schmerzhaft spürbar.

Teri (Nava Mau) ist Donnys Traumfrau – und hat keine Chance gegen den Trauma-Ballast in seinem Leben. Netflix

Clevererweise thematisiert die Serie das, was das Problematische an ihr ist, gleich mit: So steht die Geschichte mit Martha nicht nur für eine abgrundtief schlimme Zeit in Donnys/​Richards Leben, sie fungiert auch als Katalysator für seine Karriere. Gegen Ende sieht man Donny einmal, wie er damit anfängt, die Erlebnisse aufzuschreiben, aufzubereiten und zu sortieren: Es ist der Beginn seiner künstlerischen Auseinandersetzung mit diesem Martyrium und damit auch mit der Neukonstruktion seines Selbst, der Grundstein für sein Bühnenstück und damit jetzt auch für die Serie.

Inwiefern hat er Martha also auch für sein berufliches Vorwärtskommen „benutzt“? Hat er Martha vielleicht auch deshalb erst so spät angezeigt, weil er früh spürte, dass die Sache „Stoff“ sein könnte für ein künstlerisches Projekt? Beruhte die Obsession auf Gegenseitigkeit? Es gehört zur brutalen Ehrlichkeit von „Rentierbaby“ unbedingt dazu, dass derart unangenehme Fragen nicht ausgespart bleiben. Kaum jemand hat sich filmisch je so „nackt“ gemacht wie Richard Gadd.

In die Wirklichkeit sind diese Fragen längst übergesprungen. Die anonym bleibende „echte“ Martha hat sich inzwischen gemeldet und angekündigt, Gadd verklagen zu wollen, während sich unter den Zuschauern eine Art Freizeit-Detektivclub gebildet hat, der es sich zum Ziel gesetzt hat, mit seiner Schwarmintelligenz sowohl die „echte“ Martha als auch den „echten“ Darrien zu enttarnen. Dies hat u.a. dazu geführt, dass ein Londoner Theatermacher, der dabei zu Unrecht genannt wurde, die Polizei einschalten musste. Richard Gadd selbst sah sich schließlich dazu gezwungen, öffentlich darum zu bitten, dieses Enttarnungsspiel zu beenden. Das sei „nicht der Sinn dieser Show“, schrieb er auf Instagram. All dies zeigt, dass „Rentierbaby“ längst mehr ist als nur eine weitere Fernsehserie. Sie ist auch ein Politikum, ein Diskussionsbeschleuniger, ein wirkmächtiger Karrierestarter – und alles in allem ein Siebenteiler, den man so schnell nicht wieder loswird.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der kompletten Miniserie.

Meine Wertung: 4,5/​5

Die Miniserie „Rentierbaby“ ist bei Netflix abrufbar.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • am

    was für ein vollschrott...
    • am

      Ich  habe angefangen wegen der guten Kritiken, ich gebe aber zu: Es hat mich eher gelangweilt und ich habe abgebrochen. Vielleicht schaue ich aber weiter. Das liegt natürlich nicht an der Serie, sondern es trifft halt nicht so recht meinen Geschmack. Wobei, American Beauty hat mir schon gefallen.
      • am via tvforen.de

        Emotional, realistisch und mit Teilweise recht derben Szenen. Die Serie gibt tiefe Einblicke in die Dynamiken von Stalking, echt sehenswert.
        • am via tvforen.de

          Das muss ich mir merken, danke. Vor ein paar Jahren habe ich einen französischen Film gesehen, dort war die Frau die Stalkerin, die ihrem vermeintlichen Traummann das Leben zur Hölle gemacht hat. Es war ein guter Film, den Titel habe ich leider vergessen.
        • am via tvforen.de

          der war mit audrey tautou.
          musse demnach "wahsinnig verliebt" gewesen sein

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